Berliner Abend

Spukhaftes Wandeln ohne Existenz!
Der Asphalt dunkelt und das Gas schmeißt sein
Licht auf ihn. Aus Asphalt und Licht wird Elfenbein.
Die Straßen horchen so. Riechen nach Lenz.

Autos, eine Herde von Blitzen, schrein
Und suchen einander in den Straßen.
Lichter wie Fahnen, helle Menschenmassen:
Die Stadtbahnzüge ziehen ein.

Und sehr weit blitzt Berlin. Schon hat der Ost,
Der weiße Wind, in den Zähnen den Frost,
Sein funkelnd Maul über die Stadt gedreht,
Darauf die Nacht, ein stummer Vogel, steht.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 2 (8. Jan)

Die Dirne

Die Zähne standen unbeteiligt, kühl
Gleich Fischen an den heißen Sommertagen.
Sie hatte sie in sein Gesicht geschlagen
Und trank es – trank – entschlossen dies Gefühl

In sich zu halten, denn sie ward ein wenig
Wie früher Mädchen und erlitt Verführung;
Er aber spürte bloß Berührung,
Den Mund wie einen Muskel, mager, sehnig.

Und sollte glauben an ihr Offenbaren,
Und sah, wie sie dann dastand – spiegelnackt –
Das Falsche, das Frisierte an den Haaren;

Und unwillig auf ihren schlechten Akt
Schlug er das Licht aus, legte sich zu ihr,
Mischend im Blut Entsetzen mit der Gier.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 2 (8. Jan.)

Belle Amie – –

Meine Arme sind jetzt sehr stark.
Und so erfahren,
Meine Nerven flüstern
Am Rückenmark
Von ihren Haaren; –
Und wieder (lüstern):
Von ihren gelben Haaren – –

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 2 (8. Jan)

Meine Jüdin

Du junge Jüdin, braune Judith, köstliche
Frucht der Erkenntnis, weißer Blütenfall:
Aus Kleidern steigst du nackt, ein All ins All,
Mit deinen Brüsten, Mythenfrau, du östliche.

Steige vom Sockel, Venus, aus zerballter
Wäsche, Jungweib! Wie Morgensonne blitzt
Dein Bauch – und in der Schenkel Schatten sitzt
Wie Blüten saugend, fest, ein schwarzer Falter.

Und Schwarzes fällt aus den gelösten Schleifen
In den konkaven Nacken, wie Geruch.
Und die zu großen, graden Zähne blecken,

Als ob sie schon in Männerküssen stäken.
Der Blick hängt glänzend über dem Versuch,
Die Lippen über das Gebiß zu streifen.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 2 (8. Jan.)

Der Denker

Nachmittag wird, und Wetter steigen schwarz
Herauf. Des Blitzes Ferse leuchtet im
Gewölk. Auf das Gebirge beißt voll Grimm
Der Donner, und Regen speien aus dem Quarz.

Den Fuß den Felsgesteinen eingestemmt,
Die Augen abgewandt, als horche er,
So kommt er durch die Schründe, weglos, quer.
Zum weißen Urherrn in der Blitze Hemd.

Der Abgrund saugt Milliarden Zentner Himmel
In sich hinein. Der Weiße oben bleckt,
Zu dem er steigt. Durch Gletscher grün von Schimmel,

Des Riesen Bart, der von den Föhnen leckt.
Und schon reißt weit der Horizont entzwei, –
Blank, eben, schwangleich rauscht ins All ein Schrei.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 1 (1. Jan.)

Erläuterungen:
Denker. Anspielung auf „Zarathustra“ von Nietzsche, als dieser durch das Gebirge steigt.

Erwachsene Mädchen

Wer weiß seit Fragonard noch, was es heiße,
Zwei stracke Beine haben in dem Kleide;
Roben gefüllt von Fleisch, als ob die Seide
In jeder Falte mit dem Körper kreiße.

Aus dem Korsage fahren eure Hüften
Wie Bügeleisen in den Stoff der Röcke,
Darauf wie Bienen auf die Bienenstöcke
Unsere Blicke kriechen aus den Lüften.

Ihr jugendlichen Sonnen! Fleischern Licht!
Wir haben den Ehrgeiz der Allegorien
Und hübschen Dinge im Gedicht.

Ich will mit eurer Bettwärme Blumen ziehn!
Und einen kleinen Mond aus dem Urin,
Der sternenhell aus eurem Blute bricht!

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 2, Jg. 1912, Nr. 49 (4. Dez.)

Erläuterungen:
Fragonard. Jean Honoré Fragonard, frz. Maler (1732 – 1806), der mittels seiner galanten und frivolen Bilderthemen bekannt wurde.


Anmerkung: Die beiden Terzette des Sonetts sind für die Buchausgabe völlig umgeschrieben worden.

Die Fassung, wie sie in Die Aktion veröffentlicht wurde, lautet:

Erwachsene Mädchen

Wer weiß seit Fragonard noch, was es heiße,
Zwei stracke Beine haben in dem Kleide;
Roben gefüllt von Fleisch, als ob die Seide
In jeder Falte mit dem Körper kreise.

Aus der Korsage fahren ihre Hüften
Gleich Bügeleisen in den Stoff der Röcke,
Darin wie Bienen in die Bienenstöcke
Die Winde kriechen aus den kalten Lüften.

Kindsköpfe ihr, ihr kleinen, festen Brüste,
Die ihr gleich sommerlichen Rosen ruht. –
Des Abends Elegie macht das; mir ist, es müßte

In diesen Ernten sein, daß Boas Ruth
Auf seinen Feldern trifft: Wie tut er gut
Der Brustkorb Rosen in der Weizenwüste.


Jeunes filles adultes

Qui depuis Fragonard connaît encore
Ce que veulent dire deux jambes rebondies,
Chair remplissant la robe comme si
La soie en chaque pli accouchait du corps.

Vos hanches poussent du corset telles des fers
Brûlants le tissu des jupes, auxquelles,
Comme les abeilles vers les rayons de miel,
Nos regards rampent à travers les airs.

Ah ! Juveniles soleils ! Lumière de chair !
L’ambition des allegories et des jolies choses
Dans le poème. Cela nous fascine.

De vos draps tièdes, je veux faire pousser des roses,
Et une petite lune d’urine
Qui jaillit de votre sang, astre clair.

© 2005-11 Eberhard Scheiffele (Traductions de 22 poèmes de Paul Boldt)

Gleich den Tannen . . .

Gleich den Tannen des Waldes
Hat dein Nacken
Einen Duft –
Du Große, Geliebte!

In den blühenden Wiesen,
Wenn der Juni reift,
Baden deine Füße
Und werden geliebt.

Auf deinen Brüsten
Wachsen Opale!
Die glitzern
Im Schnee der Begierde.

Wie Regen
Am Acheron
Fühlt dein Haar der Nackte,
Bronzener Kühle voll.

Deiner Arme Umarmungen,
Sausende Lichtkaskaden,
Trinke ich heißer,
Dunkler Hades.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 2, Jg. 1912, Nr. 48 (27. Nov.)

Erläuterungen:
Acheron. Fluß der Unterwelt.

Novemberabend

Es weht. Das Abendgold ist eine Fahne,
Die von den Winden schon erbeutet wird.
Ein etwas Herbst in der Platane,
Ein grelles Chrom verweht, verwird.

In Wolken gleich verkohlten Stämmen
Riecht man die tote Sonne noch;
Dann das Einatmen, Drängen, Dämmen –
Einsamkeiten kommen hoch.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 2, Jg. 1912, Nr. 47 (20. Nov.)

Auf der Terrasse des Café Josty

Der Potsdamer Platz in ewigem Gebrüll
Vergletschert alle hallenden Lawinen
Der Straßentrakte: Trams auf Eisenschienen,
Automobile und den Menschenmüll.

Die Menschen rinnen über den Asphalt,
Ameisenemsig, wie Eidechsen flink.
Stirne und Hände, von Gedanken blink,
Schwimmen wie Sonnenlicht durch dunklen Wald.

Nachtregen hüllt den Platz in eine Höhle,
Wo Fledermäuse, weiß, mit Flügeln schlagen
Und lila Quallen liegen – bunte Öle;

Die mehren sich, zerschnitten von den Wagen. –
Aufspritzt Berlin, des Tages glitzernd Nest,
Vom Rauch der Nacht wie Eiter einer Pest.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 2, Jg. 1912, Nr. 46 (13. Nov.)

Erläuterungen:
Café Josty. Eines der bekannten Berliner Künstler- und Literatencafés am Potsdamer Platz.


A la terrasse du café Josty

Dans un rugissement continu, la place de Potsdam
Transforme en glaciers tous les traits d’avenues :
Avalanches résonnantes de trams,
Véhicules, hommes résidus.

Les humains ruissellent tel des lézards
Véloces, de laborieuses fourmis.
Fronts, mains, regards éblouis
Flottent, taches de lumière, dans une forèt noire.

La nuit, grotte creusée dans la pluie,
Où les chauves-souris battent des ailes blanches
Et de mauves méduses se multiplient,

Flaques d’huile chatoyantes, que les voitures tranchent. –
Nid scintillant le jour, Berlin la nuit nous infeste,
Jailli de la fumée comme le pus d’une peste.

© 2005-11 Eberhard Scheiffele (Traductions de 22 poèmes de Paul Boldt)

Der Schnellzug

Es sprang am Walde auf in panischem Schrecke,
Die gelben Augen in die Nacht geschlagen. –
Die Weiche lärmt vom Hammerschlag der Wagen
Voll blanken Lärms, indes sie fern schon jagen

Im blinden Walde, lauert an der Strecke
Die Kurve wach. Es schwanken die Verdecke.
Wie Schneesturm rennt der D-Zug durch die Ecke,
Und tänzelnd wiegen sich die schweren Wagen.

Der Nebel liegt, ein Lava, auf den Städten
Und färbt den Herbsttag grün. Auf weiter Reise
Wandert der Zug entlang den Kupferdrähten.

Der Führer fühlt den Schlag der Triebradkreise
Hinter dem Sternenkopfe des Kometen,
Der zischend hinfällt über das Geleise.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 2, Jg. 1912, Nr. 45 (6. Nov.)

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