Die Reise

In diesem Herbst, der nicht mehr wärmt, ist Trauer.
Seit aller Vogelflug nach Süden schwärmte
Und Liebe sich um ihr Geliebtes härmte,
Schüttet die Nacht unnennbare Schauer

Über den Weg, den ich zu gehen wähnte.
Ach, Kreuzweg kam! Ach, Kreuzweg! Ungenauer
Sieht mein Gesicht. Ins Auge nebelgrauer
Stach Bitternis so, bis es tränte, tränte.

Wie schritt ich eigenmächtig in die Ferne.
Die Tage brannten magisch an den Händen.
Es lullte mich. Ich trug die Träume gerne,

Und als Verdienst erschien ein Abenteuer. – –
Die Straße hält auf diesem schwarzen Sterne;
Gestrüpp von Nächten. Schmutz ist im Gelände.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 39 (27. Sept.)

Lyrik

Wie Wellen fallen, wollen wir es halten,
Die ewig springen mit Elan ans Land.
Zwecklos. So sollen immer überrannt
Die dumpfen Dinge sich nach uns gestalten.

Hasse die Unkunst aller Atemalten!
Gebäre Verse – Schreie, nervgespannt!
Laß Worte anglühn in der Reime Brand
Und dunkeln von Gefühl, wenn sie erkalten.

Schreib kräftig, grade; gib dem Worte viel,
Dem Vers die Worte wie der Brücke Joche.
Die runde Zahl der Tage ist die Woche!

Arbeite und forciere deinen Stil!
Bete zu Nietzsche! Spanne dich mit Verven
Des Croisset-Christus, Jesus unsrer Nerven.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 36 (6. Sept.)

Erläuterungen:
Croisset. Stadt bei Rouen.

Friedrichstraßendirnen

Sie liegen immer in den Nebengassen,
Wie Fischerschuten gleich und gleich getakelt,
Vom Blick befühlt und kennerisch bemakelt,
Indes sie sich wie Schwäne schwimmen lassen.

Im Strom der Menge, auf des Fisches Route.
Ein Glatzkopf äugt, ein Rotaug‘ spürt Tortur,
Da schießt ein Grünling vor, hängt an der Schnur
Und schnellt an Deck einer bemalten Schute,

Gespannt von Wollust wie ein Projektil!
Die reißen sie aus ihm wie Eingeweide,
Gleich groben Küchenfrauen ohne viel

Von Sentiment. Dann rüsten sie schon wieder
Den neuen Fang. Sie schnallen sich in Seide
Und steigen ernst mit ihrem Lächeln nieder.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 33 (16. Aug.) 


The Prostitutes of Friedrichstraße

It’s always side-streets that they linger on.
Rigged out like sister fishing ships, they dress
The same. Discerning glances will assess
Them, as they sport about like swimming swans.

Among the swirling crowds, the fishes’ route.
A bald one ogles them; a sunfish pleads
For S&M; a wide-eyed gudgeon speeds
Ahead; he’s hauled in by a painted boat.

Consumed by flesh, he shoots on deck; he zooms—
A rocket shell! They gut him of his lust,
Like careless kitchen maids who have no room

For sentiment; then, using all their guile,
Cut bait for their next catch. With bodies thrust
In silk, they step down streets with duchess-smiles.

Lyrics by Paul Boldt in English Translation
by Daniel J. Webster


Les prostituées de la Friedrichstraße

Dans les ruelles ammarrées en lignes,
Gabares de pêche également gréées,
Palpées par les regards, expertement jaugées,
Elles se laissent flotter comme des cygnes.

Parmi la foule, banc de poissons
Un chauve lorgne, un gardon souffre son rut,
Soudain un goujon s’élance, mû d’émotion subite,
Sur le pont d’une gabare peinte, il frétille à l’hameçon,

Tendu de volupté comme un projectile !
Mais semblables à des ménagères viles
Elles la lui arrachent comme des tripes

Sans états d’âme. Puis pour la nouvelle proie
Se seignent de fripes de soie,
Et descendent alors avec leur grave sourire.

© 2005-11 Eberhard Scheiffele (Traductions de 22 poèmes de Paul Boldt)

 

Rinder

Verblichnes Grün der Weide deckt
Das Weiß und Schwarz der Herde.
Silhouetten, da und dort gesteckt,
Die Köpfe auf der Erde.

Die Wiese atmete nicht mehr,
Knirrte der Rinder Schlund;
Das Julilicht spritzte umher,
Die Wolken zogen, und

Unten geht ein fleischern Meer
Im grünen Klee spazieren.
Vom Hund umbellt. Zurück. Carrière,
Humpeln von alten Tieren.

Im Grase lagert sich das Blöken.
Dumm scharrt des Stieres Huf.
Die Kälber jagen an den Pflöcken –
Melkmägde schallen voller Ruf.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 32 (9. Aug.)


Cattle

The herd of black and white besets
The faded meadow green.
Now here, then there, the sillhoettes
Of heads cast shadows on the lea.

The pastures breathed no more. A low
Broke out from every bovine throat;
The July light began to flow,
The clouds commenced to float,

And under them, a fleshy ocean
Strolls on in cloverleaves.
The yapping dog dictates their motion.
Back off, go forward, hobbling ancient beeves.

They low and lie in grass again.
Dumb bulls go shuffling by.
The calves are chased into the pins—
As milkmaids give full-throated cry.

Lyrics by Paul Boldt in English Translation
by Daniel J. Webster

Der Primäraffekt

Jemand, den Kopf in Mädchenknien, sagt:
Daß deine Schenkel früher zu mir kamen.
Wie Krähen fraßen Huren mich Einsamen.
Immer war Winter. Ich bin angenagt!

Dein roter Mund, ein Nest voll weißer Küsse,
Ist unerreichbar nah. Du bist so keusch.
In meinem Herzen da ist ein Geräusch,
Als ob es röchle und ersticken müsse.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 27 (5. Juli)

Erläuterungen:
Primäraffekt. Krankheitsmerkmal der Syphilis. Tritt nach etwa drei bis vier Wochen nach erfolgter Ansteckung an der Infektionstelle auf.

In der Welt

Ich lasse mein Gesicht auf Sterne fallen,
Die wie getroffen auseinander hinken.
Die Wälder wandern mondwärts, schwarze Quallen,
Ins Blaumeer, daraus meine Blicke winken.

Mein Ich ist fort. Es macht die Sternenreise.
Das ist nicht Ich, wovon die Kleider scheinen.
Die Tage sterben weg, die weißen Greise.
Ichlose Nerven sind voll Furcht und weinen.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 27 (5. Juli)


Dans le monde

Je laisse mon visage tomber sur les étoiles,
Qui comme frappées en clopinant s’écartent.
Les forêts s’en vont vers la lune, méduses noires,
Dans une mer de bleu, d’où saluent mes regards.

Mon moi s’est enfui. Il fait le voyage interstellaire.
Ce n’est pas moi qui fait luire les vêtements.
Les jours se meurent, vieillards blancs.
Des nerfs sans moi sont pleins d’angoisse et pleurent.

© 2005-11 Eberhard Scheiffele (Traductions de 22 poèmes de Paul Boldt)

Andere Jüdin [2]

Dein Nacken sonnte meiner Arme Pflanzen,
Kann ich verstehen, daß du sie verdorrst!
Die Sonne kommt im Frühling in den Forst,
Gibst du mir Winter, diesen einen ganzen?

Der Wind ist weiß und in den Gärten grün.
Den Birken kriechen Blüten aus der Rinde. –
Bewehe mich! Laß doch in deinem Winde
Auf meinen Nervenfeldern Verse blühn!

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 23 (4. Juni)

Andere Jüdin

I

Im Norden sind die Ebenen, da steigen
Die Ströme zitternd in das Meer,
Das sie verhüllt. Der Wind weht Wogen her.
Das Wasser schweigt, und die Sternbilder schweigen.

Du stiegst hinab mit deinem weißen, leisen
Lachen sprudelnd und deiner Brüste Schaum.
Antworte doch! Bist du noch in dem Raum,
Wo meiner Augen Vögel schreien, kreisen?

II

Der Wind ist in den Eichen,
Die sich nach Westen legen
Und diesen kleinen, bleichen
Himmel zusammenfegen;

Ich atme schlecht! Ich zucke
So an der Luft! Untätig.
Mir ist vom steten Drucke
Nicht mehr viel Ich vorrätig.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 21 (21. Mai)

Im Inhaltsverzeichnis von Die Aktion wurde das Gedicht als “Die zweite Jüdin” getitelt.


Anmerkung: Die zweite Strophe von Teil I. ist für die Buchausgabe völlig umgeschrieben worden.
Die beiden Gedichtteile wurden getauscht, sodass die Erstveröffentlichung wie folgt lautete:

Andere Jüdin

I

Der Sturm braust in den Eichen,
Die sich nach Westen legen
Und diesen kleinen bleichen
Himmel zusammenfegen. –

Ich dunkle so, ich lebe
Einsamer und versteint,
Weil über mein Gewebe
Dein Antlitz nicht mehr scheint.

II

Im Norden sind die Ebenen, da steigen
Die Ströme zitternd in das Meer,
Das sie verhüllt. Der Wind weht Wogen her.
Das Wasser schweigt, und die Sternbilder schweigen.

Du stiegst hinab mit deinem weißen, leisen
Lachen sprudelnd und deiner Brüste Schaum. –
Antworte doch! Bist du noch in dem Raum,
Wo meiner Augen Vögel schreien, kreisen?

Frühjahr

Die ganze Nacht durch kamen Wanderungen
Wie auf der Flucht, in sohlenloses Schreiten
Vermummt. Am Morgen bargen es die Weiten:
Nur Sturm schwimmt durch die dunkelen Waldungen.

Als wäre allem Licht ein Tor gesprungen,
Will es sich in die Aderbäume breiten,
Darin die Pulse spülen, Säfte gleiten
Wie Frühjahrsströme durch die Niederungen.

Mein gutes Glück, märzlich dahergetänzelt.
Mädchen, gut, daß du Weib bist! Diese Stunde
Verlangt das. Küsse mich! O unsere Munde

Haben noch niemals um ihr Glück scharwenzelt.
Du – du – dein Haar riecht wie der frühe Wind
Nach weißer Sonne – Sonne – Sonne – Wind.

 

JP JP 1

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 19 (7. Mai)


Spring

The whole night through, migrations came as though
In flight, with muffled steps, sans feet or limbs.
By morning, open fields had sheltered them:
The darkened woods, the sole place storms would blow.

As if a gate sprung open just to wash
The world with light that wished to spread through veins
Which pulses cleanse, the tree-sap glides in streams
Of spring and floods the lowlands and the marsh.

Like March, good fortune ambles up to me.
Young girl, it’s good that you are woman. This hour
Demands it. Kiss me! We don’t need to purr

Some phony words to reach our ecstasy.
Ah you, your hair smells of the early wind
Of white-hot sun—of sun—of sun—of wind.

Lyrics by Paul Boldt in English Translation
by Daniel J. Webster

Amor und Mors

Die Liebenden am Abend in Berlin!
Wir liebten junge Mädchen nach Gewicht!‘
Elf Dutzend Pfund! Sie radebrechten: „Nicht“,
Umarmten uns und stießen mit den Knien!

Unser Geschlecht berauscht die Jungfraun! Schrien
Nicht alle gleich? – Ach, dieser Lärmkehricht‘
Deflorationen ist erinnerungschlicht
Verschollen wie Quartaneronanien. –

Wir mästen unser Lachen. In den Städten,
Des Todes sehr rentablen Fleischerein,
Arbeiten Dirnen, Ärzte; sie entgräten

Die Luesleichen für den Schlund des Grabes,
Tod, stellst du keinen Liebesdichter ein?
Wir machen Propaganda für die Tabes.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 18 (30. April)

Erläuterungen:
Lues. lat. „Seuche“, hier:  Syphilis.
Tabes. Auch tabes dorsalis, aus lat. „Rückenmarkschwindsucht“, ein etwa  9 Jahre nach Ansteckung auftretendes Krankheitsbild der Syphilis.

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