Andere Jüdin [2]

Dein Nacken sonnte meiner Arme Pflanzen,
Kann ich verstehen, daß du sie verdorrst!
Die Sonne kommt im Frühling in den Forst,
Gibst du mir Winter, diesen einen ganzen?

Der Wind ist weiß und in den Gärten grün.
Den Birken kriechen Blüten aus der Rinde. –
Bewehe mich! Laß doch in deinem Winde
Auf meinen Nervenfeldern Verse blühn!

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 23 (4. Juni)

Andere Jüdin

I

Im Norden sind die Ebenen, da steigen
Die Ströme zitternd in das Meer,
Das sie verhüllt. Der Wind weht Wogen her.
Das Wasser schweigt, und die Sternbilder schweigen.

Du stiegst hinab mit deinem weißen, leisen
Lachen sprudelnd und deiner Brüste Schaum.
Antworte doch! Bist du noch in dem Raum,
Wo meiner Augen Vögel schreien, kreisen?

II

Der Wind ist in den Eichen,
Die sich nach Westen legen
Und diesen kleinen, bleichen
Himmel zusammenfegen;

Ich atme schlecht! Ich zucke
So an der Luft! Untätig.
Mir ist vom steten Drucke
Nicht mehr viel Ich vorrätig.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 21 (21. Mai)

Im Inhaltsverzeichnis von Die Aktion wurde das Gedicht als “Die zweite Jüdin” getitelt.


Anmerkung: Die zweite Strophe von Teil I. ist für die Buchausgabe völlig umgeschrieben worden.
Die beiden Gedichtteile wurden getauscht, sodass die Erstveröffentlichung wie folgt lautete:

Andere Jüdin

I

Der Sturm braust in den Eichen,
Die sich nach Westen legen
Und diesen kleinen bleichen
Himmel zusammenfegen. –

Ich dunkle so, ich lebe
Einsamer und versteint,
Weil über mein Gewebe
Dein Antlitz nicht mehr scheint.

II

Im Norden sind die Ebenen, da steigen
Die Ströme zitternd in das Meer,
Das sie verhüllt. Der Wind weht Wogen her.
Das Wasser schweigt, und die Sternbilder schweigen.

Du stiegst hinab mit deinem weißen, leisen
Lachen sprudelnd und deiner Brüste Schaum. –
Antworte doch! Bist du noch in dem Raum,
Wo meiner Augen Vögel schreien, kreisen?

Frühjahr

Die ganze Nacht durch kamen Wanderungen
Wie auf der Flucht, in sohlenloses Schreiten
Vermummt. Am Morgen bargen es die Weiten:
Nur Sturm schwimmt durch die dunkelen Waldungen.

Als wäre allem Licht ein Tor gesprungen,
Will es sich in die Aderbäume breiten,
Darin die Pulse spülen, Säfte gleiten
Wie Frühjahrsströme durch die Niederungen.

Mein gutes Glück, märzlich dahergetänzelt.
Mädchen, gut, daß du Weib bist! Diese Stunde
Verlangt das. Küsse mich! O unsere Munde

Haben noch niemals um ihr Glück scharwenzelt.
Du – du – dein Haar riecht wie der frühe Wind
Nach weißer Sonne – Sonne – Sonne – Wind.

 

JP JP 1

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 19 (7. Mai)


Spring

The whole night through, migrations came as though
In flight, with muffled steps, sans feet or limbs.
By morning, open fields had sheltered them:
The darkened woods, the sole place storms would blow.

As if a gate sprung open just to wash
The world with light that wished to spread through veins
Which pulses cleanse, the tree-sap glides in streams
Of spring and floods the lowlands and the marsh.

Like March, good fortune ambles up to me.
Young girl, it’s good that you are woman. This hour
Demands it. Kiss me! We don’t need to purr

Some phony words to reach our ecstasy.
Ah you, your hair smells of the early wind
Of white-hot sun—of sun—of sun—of wind.

Lyrics by Paul Boldt in English Translation
by Daniel J. Webster

Amor und Mors

Die Liebenden am Abend in Berlin!
Wir liebten junge Mädchen nach Gewicht!‘
Elf Dutzend Pfund! Sie radebrechten: „Nicht“,
Umarmten uns und stießen mit den Knien!

Unser Geschlecht berauscht die Jungfraun! Schrien
Nicht alle gleich? – Ach, dieser Lärmkehricht‘
Deflorationen ist erinnerungschlicht
Verschollen wie Quartaneronanien. –

Wir mästen unser Lachen. In den Städten,
Des Todes sehr rentablen Fleischerein,
Arbeiten Dirnen, Ärzte; sie entgräten

Die Luesleichen für den Schlund des Grabes,
Tod, stellst du keinen Liebesdichter ein?
Wir machen Propaganda für die Tabes.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 18 (30. April)

Erläuterungen:
Lues. lat. „Seuche“, hier:  Syphilis.
Tabes. Auch tabes dorsalis, aus lat. „Rückenmarkschwindsucht“, ein etwa  9 Jahre nach Ansteckung auftretendes Krankheitsbild der Syphilis.

Abendavenue

Die Straße ist von Klängen überstrahlt,
Bewachsen von Phantasmen des Geruches,
Und Hüften in den Hülsen blauen Tuches,
Das aller Schritt zu Reiz zermalmt und mahlt.

Die Dirnen kommen, knarrend, Wollustfuder,
Und Bürgermädchen, die mit Reizen knausern;
Jungfräulein die, und andern, die schon mausern,
Gleitet ein Scharlachlächeln in den Puder.

Teufel! Wir werden wie die Pelikane
– Wenn diese Mädchen uns mit Blicken füttern,
Gierig nach den Konturen und Profilen,

Die alle kommen, einzeln, momentane,
Und aus den fetten Rücken, aus den Müttern,
Bisweilen leise nach uns Jungen schielen.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 17 (23. April)


Avenue du soir

La rue de sons irradiée,
Couverte d’odeurs phantasmées,
Et de hanches dans des étuis bleus roi
Que pour séduire, chaque pas moud et broie.

Les filles de joie arrivent, grinçantes, foudres
De volupté, et de jeunes bourgeoises décentes,
Elles et d’autres qui muent déjà, adolescentes.
D’écarlates sourires glissent dans la poudre.

Diable ! Comme les pélicans nous deviendrons,
Gavés des regards de ces fillettes,
Avides de contours et de silhouettes.

Elles passent toutes, seules, un instant
Et, d’entre les dos gras de leurs mamans,
Parfois, silencieuses, jettent un oeil vers nous, les garçons.

© 2005-11 Eberhard Scheiffele (Traductions de 22 poèmes de Paul Boldt)

Lektüre

Schwer wird‘s zu lachen und nicht auszuspein,
Weil alle Herzen pökeln in den Brüsten.
Ach, ich will Galle haben! Ich will mich entrüsten!
Schmeißt doch die Dichterschädel ein!

Zech, Bab, Lissauer – macht doch ein Pogrom!
Schleift doch ein Messer für die fetten Gurgeln!
Gott schenke sie doch den Chirurgeln
Mit einem Kehlkopfkarzinom.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 16 (16. April)

Erläuterungen:
Zech, Bab, Lissauer.  Paul Zech (1881 – 1946),
Julius Bab (1880 – 1955) und Ernst Lissauer (1882 – 1937), Schriftsteller mit ausgeprägten Hang zum Patriotismus.

Mondschein [Prosa]

Abends; – abends lachten die Wälder. Rotes Lachen. Die jungen Bäume liebten sich. Der Osten glänzte schwarz. Der Mond schritt durch des Ostens Dunkelheit. Weit umher verlor er Licht. Die Nebel leuchteten hinter ihm.
Alle Ställe schwammen auf und das Gutshaus und der Park. Die Blumen beunruhigten sich. Des Frühlings jüngstes Gericht war da.
Die Tür des Parkes stand auf. – Wie viele es waren! Junge Stuten schritten hinein. Eine Hellbraune, zweijährig und schon erwachsen, als letzte. Die Pforte lief hinterher in das Schloß.
Die jungen Pferde waren erregt. Sie besprangen einander, sehnsüchtig, begattet zu sein. Ihre Nüstern waren Blüten, die atmeten. Aber ihre schönen Köpfe waren entstellt. Die Krankheit der Wollust, die den Schädel aufbläht und fleischig macht.
Die hellbraune Stute aus dem Tragheimer Gestüt, mit kleinen Ohren und schwarzem, geflochtenem Schweif, lag in einem Beet. Ihre Hufe waren verborgen von den Narzissen. Sie wuchs auf ihren Hüften gleich einer sitzenden Frau. Ihr brauner Hals floß in die Blumen. Ihr Gesicht war unwillig, als litte es Schmerz. Sie fühlte ihren Leib nackt. Und sie wartete. Schreilos. Wie der Wald den Sturm erwartet.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 15 (9. April)

Mein Februarherz

Als trügen Frauen in den Straußenfedern‘
Das junge Licht wie eine weiße Fahne,
Gehörten alle Häuser reichen Reedern
Und wären Schiffe, schwimmt um die Altane

Die blaue Luft! Oh, jetzt in einem Kahne
Auf Wassern fahren, süßen Morgennebeln
Entgegensteuern, gleich dem leisen Schwane
Die Wellen teilend mit den schwarzen Hebeln!

Geh in die Leipzigerstraße! Geh ins Freie!
Schön ist die Wollust! Gott ein guter Junge.
Die Dirnen sommern brünstiger als Haie!

Ich habe Geld! Ich bin so schön im Schwunge.
Sonette aus Sonne kitzeln mir die Zunge!
In meiner Kehle sammeln sich die Schreie!

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 14 (2. April)

Leipzigerstraße. Querstraße zur Berliner Amüsiermeile Friedrichstraße.

Impression du Soir

Des Abends schwarze Wolkenvögel flogen
Im Osten auf vom Fluß der Horizonte.
Gärten vertropft in Nacht, die, als es sonnte,
Wie Seen grünten und den Wind einsogen.

Einsame Pappeln pressen ihre Schreie
Angst vor den Stürmen in die blonde Stille.
Schon saugen schwarze Munde Atem. – Schrille
Fabrikenpfiffe. Menschen ziehn ins Freie.

Ein rotes Mohnfeld mit den schwarzen Köpfen,
Ragen die Schlote, einsam, krank und kahl.
Die Wolkenvögel, Eiter an den Kröpfen,

Wie Pelikane flattern sie zum Mahl.
Und als die Horizonte Dunkel schöpfen,
Wirft sich der Blitz heraus, der blanke Aal.

 

Dies ist die Buchfassung = Zweitfassung.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 10 (5. März)


Anmerkung: Die Erstfassung unterscheidet sich von der Buchfassung durch zwei vorangestellte Strophen mit acht Zeilen.

Die Fassung, wie sie in Die Aktion veröffentlicht wurde, lautet:

Impression du Soir

Die Wälder lechzen. Nacht kommt, sie zu säugen.
Die Kiefern stehen abendrot mit Blüten.
Und wir vom schrillen Weltgefühl Verbrühten
Blecken die Zähne, röcheln schwarz und äugen.

Und speihn Gefühl, das unsern Magen faßte
Wie Tabaksaft. Da liegt etwas! Erkenn,
Ist das nicht ein Sonett! — Dich ängstigen
Die großen koloristischen Kontraste —:

Des Abends schwarze Wolkenvögel flogen
Im Osten auf vom Fluß der Horizonte.
Gärten vertropft in Nacht, die, als es sonnte,
Wie Seen grünten und den Wind einsogen.

Einsame Pappeln pressen ihre Schreie
Angst vor den Stürmen in die blonde Stille.
Schon saugen schwarze Munde Atem. — Schrille
Fabrikenpfiffe. Menschen ziehn ins Freie.

Ein rotes Mohnfeld mit den schwarzen Köpfen,
Ragen die Schlote, einsam, krank und kahl.
Die Wolkenvögel, Eiter an den Kröpfen,

Wie Pelikane flattern sie zum Mahl.
Und als die Horizonte Dunkel schöpfen,
Wirft sich der Blitz heraus, der blanke Aal.

Vorfrühlingshimmel

Blätter wollen im Winde fliegen,
Winde die Chaussee begleiten,
Wolken sich auf Winden wiegen,
Taumelnde Beschwerlichkeiten. –

Und ich komme, seltsam kühn,
Und als ob ich nicht Ich wäre,
Aus den Winden, Avenuen,
Mehr in das Imaginäre.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 9 (28. Feb.)

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