Das Gespenst

Wie weiß der Sommer ist! Wie Menschenlachen,
Das alle Tage in der Stadt verschwenden.
Häuserspaliere wachsen hoch zu Wänden
Und Wolkenfelsen, die mich kleiner machen.

In tausend Straßen liege ich begraben.
Ich folge dir stets ohne mich zu wenden.
O hielte ich dein Antlitz in den Händen,
Das meine kranken Augen vor sich haben.

Ich küßte es. Es küßte mich im Bette -:
– Versprich, daß du mich morgen nicht mehr kennst!
– Bist du nachts fleischern und ein Taggespenst?

– Du locktest es ins Netz deiner Sonette.
– Junger Polyp, dein Mund ist eine Klette.
– Er wird dich beißen, wenn du ihn so nennst.
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Erstveröffentlichung:
„Junge Pferde! Junge Pferde!“ (1914)

Der Frauentod

Der Tod umarmt mich in den warmen Frauen.
Beischlaf erregt, zersetzt die Moleküle.
Ich wandre durch Provinzen der Gefühle
Der Freude ab und komme in das Grauen.

Dich, Dirne, macht die Nacktheit antlitzschön.
Heiliges Fleisch steht auf den Knien im Haar.
Ich liege bei dir, lächelnd, am Altar,
Dem Tod entrückt auf deiner Brüste Höhen.

Aber nach Umarmungen, nach allem
Durchscheinen jedes Fleisch die hellen Knochen.
Die Muskeln schimmern am Skelett, zerfallen.

Ich sterbe. Niemand hat zu mir gesprochen.
Irrsinnig lasse ich mich sagen, lallen,
Und fühle dich vor Blut und Brüsten kochen.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 4, Jg. 1914, Nr. 1 (3. Jan)


La mort-femme

La mort m’enlace dans les femmes ardentes.
L’accouplement dissout les cellules violemment.
Je parcours des provinces de sentiments
Joyeux et tombe dans l’épouvante.

La nudité te rend belle, tout visage, catin.
Chair sainte à genoux dans la chevelure.
Je reste au pied de ton autel, tout sourire,
Échappé de la mort au sommet de tes seins.

Mais après l’étreinte, toute chair
Enfin, laisse transparaître les os clairs,
Les muscles luisent sur le squelette, désagrégés.

Je meurs, personne ne m’a parlé. Rien.
Égaré, je laisse les mots sortir de moi, me balbutier,
Et je te sens écumer de sang, de seins.

© 2005-11 Eberhard Scheiffele (Traductions de 22 poèmes de Paul Boldt)

Abendwald

Jetzt hat der Wald den Blutbrand.
Erschreckte Sterne fliegen auf;
Aus vogelblauem Brutland
Und von des Horizontes Lauf.

Entzückungen. Nicht eine Kiefer knistert.
Zum Farbenwalde schleicht das Licht hinaus.
Und Stern und Stern fliegt liebevoll verschwistert
Gleich Märchenschwänen an den See des Blaus.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 47 (22. Nov.)

Instgarten

Er wird vom krähngefleckten Sturm geplagt.
Das Rudel Sonnenblumen bleibt idiotisch
Im schwarzen Regen, der chaotisch
Zernebelnd Apfelbäume jagt.

In deiner Nähe säugt
Die Ebene
Melancholien, starrgeäugt.
Ein böser Blick verseucht
Dir jede Glücksidee.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 41 (11. Okt.)

Erläuterungen:
Instgarten. Instleute sind landwirtschaftliche Angestellte ohne
eigenen Grundbesitz.

Die Reise

In diesem Herbst, der nicht mehr wärmt, ist Trauer.
Seit aller Vogelflug nach Süden schwärmte
Und Liebe sich um ihr Geliebtes härmte,
Schüttet die Nacht unnennbare Schauer

Über den Weg, den ich zu gehen wähnte.
Ach, Kreuzweg kam! Ach, Kreuzweg! Ungenauer
Sieht mein Gesicht. Ins Auge nebelgrauer
Stach Bitternis so, bis es tränte, tränte.

Wie schritt ich eigenmächtig in die Ferne.
Die Tage brannten magisch an den Händen.
Es lullte mich. Ich trug die Träume gerne,

Und als Verdienst erschien ein Abenteuer. – –
Die Straße hält auf diesem schwarzen Sterne;
Gestrüpp von Nächten. Schmutz ist im Gelände.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 39 (27. Sept.)

Lyrik

Wie Wellen fallen, wollen wir es halten,
Die ewig springen mit Elan ans Land.
Zwecklos. So sollen immer überrannt
Die dumpfen Dinge sich nach uns gestalten.

Hasse die Unkunst aller Atemalten!
Gebäre Verse – Schreie, nervgespannt!
Laß Worte anglühn in der Reime Brand
Und dunkeln von Gefühl, wenn sie erkalten.

Schreib kräftig, grade; gib dem Worte viel,
Dem Vers die Worte wie der Brücke Joche.
Die runde Zahl der Tage ist die Woche!

Arbeite und forciere deinen Stil!
Bete zu Nietzsche! Spanne dich mit Verven
Des Croisset-Christus, Jesus unsrer Nerven.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 36 (6. Sept.)

Erläuterungen:
Croisset. Stadt bei Rouen.

Friedrichstraßendirnen

Sie liegen immer in den Nebengassen,
Wie Fischerschuten gleich und gleich getakelt,
Vom Blick befühlt und kennerisch bemakelt,
Indes sie sich wie Schwäne schwimmen lassen.

Im Strom der Menge, auf des Fisches Route.
Ein Glatzkopf äugt, ein Rotaug‘ spürt Tortur,
Da schießt ein Grünling vor, hängt an der Schnur
Und schnellt an Deck einer bemalten Schute,

Gespannt von Wollust wie ein Projektil!
Die reißen sie aus ihm wie Eingeweide,
Gleich groben Küchenfrauen ohne viel

Von Sentiment. Dann rüsten sie schon wieder
Den neuen Fang. Sie schnallen sich in Seide
Und steigen ernst mit ihrem Lächeln nieder.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 33 (16. Aug.) 


The Prostitutes of Friedrichstraße

It’s always side-streets that they linger on.
Rigged out like sister fishing ships, they dress
The same. Discerning glances will assess
Them, as they sport about like swimming swans.

Among the swirling crowds, the fishes’ route.
A bald one ogles them; a sunfish pleads
For S&M; a wide-eyed gudgeon speeds
Ahead; he’s hauled in by a painted boat.

Consumed by flesh, he shoots on deck; he zooms—
A rocket shell! They gut him of his lust,
Like careless kitchen maids who have no room

For sentiment; then, using all their guile,
Cut bait for their next catch. With bodies thrust
In silk, they step down streets with duchess-smiles.

Lyrics by Paul Boldt in English Translation
by Daniel J. Webster


Les prostituées de la Friedrichstraße

Dans les ruelles ammarrées en lignes,
Gabares de pêche également gréées,
Palpées par les regards, expertement jaugées,
Elles se laissent flotter comme des cygnes.

Parmi la foule, banc de poissons
Un chauve lorgne, un gardon souffre son rut,
Soudain un goujon s’élance, mû d’émotion subite,
Sur le pont d’une gabare peinte, il frétille à l’hameçon,

Tendu de volupté comme un projectile !
Mais semblables à des ménagères viles
Elles la lui arrachent comme des tripes

Sans états d’âme. Puis pour la nouvelle proie
Se seignent de fripes de soie,
Et descendent alors avec leur grave sourire.

© 2005-11 Eberhard Scheiffele (Traductions de 22 poèmes de Paul Boldt)

 

Rinder

Verblichnes Grün der Weide deckt
Das Weiß und Schwarz der Herde.
Silhouetten, da und dort gesteckt,
Die Köpfe auf der Erde.

Die Wiese atmete nicht mehr,
Knirrte der Rinder Schlund;
Das Julilicht spritzte umher,
Die Wolken zogen, und

Unten geht ein fleischern Meer
Im grünen Klee spazieren.
Vom Hund umbellt. Zurück. Carrière,
Humpeln von alten Tieren.

Im Grase lagert sich das Blöken.
Dumm scharrt des Stieres Huf.
Die Kälber jagen an den Pflöcken –
Melkmägde schallen voller Ruf.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 32 (9. Aug.)


Cattle

The herd of black and white besets
The faded meadow green.
Now here, then there, the sillhoettes
Of heads cast shadows on the lea.

The pastures breathed no more. A low
Broke out from every bovine throat;
The July light began to flow,
The clouds commenced to float,

And under them, a fleshy ocean
Strolls on in cloverleaves.
The yapping dog dictates their motion.
Back off, go forward, hobbling ancient beeves.

They low and lie in grass again.
Dumb bulls go shuffling by.
The calves are chased into the pins—
As milkmaids give full-throated cry.

Lyrics by Paul Boldt in English Translation
by Daniel J. Webster

Der Primäraffekt

Jemand, den Kopf in Mädchenknien, sagt:
Daß deine Schenkel früher zu mir kamen.
Wie Krähen fraßen Huren mich Einsamen.
Immer war Winter. Ich bin angenagt!

Dein roter Mund, ein Nest voll weißer Küsse,
Ist unerreichbar nah. Du bist so keusch.
In meinem Herzen da ist ein Geräusch,
Als ob es röchle und ersticken müsse.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 27 (5. Juli)

Erläuterungen:
Primäraffekt. Krankheitsmerkmal der Syphilis. Tritt nach etwa drei bis vier Wochen nach erfolgter Ansteckung an der Infektionstelle auf.

In der Welt

Ich lasse mein Gesicht auf Sterne fallen,
Die wie getroffen auseinander hinken.
Die Wälder wandern mondwärts, schwarze Quallen,
Ins Blaumeer, daraus meine Blicke winken.

Mein Ich ist fort. Es macht die Sternenreise.
Das ist nicht Ich, wovon die Kleider scheinen.
Die Tage sterben weg, die weißen Greise.
Ichlose Nerven sind voll Furcht und weinen.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 27 (5. Juli)


Dans le monde

Je laisse mon visage tomber sur les étoiles,
Qui comme frappées en clopinant s’écartent.
Les forêts s’en vont vers la lune, méduses noires,
Dans une mer de bleu, d’où saluent mes regards.

Mon moi s’est enfui. Il fait le voyage interstellaire.
Ce n’est pas moi qui fait luire les vêtements.
Les jours se meurent, vieillards blancs.
Des nerfs sans moi sont pleins d’angoisse et pleurent.

© 2005-11 Eberhard Scheiffele (Traductions de 22 poèmes de Paul Boldt)

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