Der Spaziergänger

Die Vegetation da ist nicht eine Tote.
Die Wälderinnen stehen warm und glatt.
Die Straße nimmt das kleine Häuserrote
Der Ebene in eine bleiche Stadt

Und steigt. Ebenen schweben ohne Ende.
Das Auge herrscht über die Grüns und Blaus.
Himmelumblasen schwenkt das Blut die Hände.
Das Herz, erstaunt, bricht in ein Lachen aus.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 4, Jg. 1914, Nr. 23 (6. Juni)

Abend am Kanal

In weißen Wegen ziehn
Die Reiter in die Stadt,
Die lichtergelb bespien
Den blauen Abend hat.

Die Linden haben Trauer,
und ineinander lehnen,
Vom Haar bewachsen, grauer
Die Birkenmagdalenen.

Das Gas beginnt zu fisteln,
Sehr zart sich zu belauben,
Als blühten große Disteln,
Die auf das Wasser stauben.

Die Wellen werden nickeln.
Die Kähne im Kanal
Frieren beglänzt und wickeln
Sich in der Winde Shawl.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 4, Jg. 1914, Nr. 15 (11. April)

Der Versuch zu lieben [Prosa]

Der Versuch zu lieben

Eine Novelle

Wilhelm kannte das hübsche Mädchen ein paar Monate. Es erfuhr alles.
Sein Kleid war von einer Damenhand geschmückt, die Schuhe oft gewöhnlich. Es lächelte maßvoll, man konnte nicht zu schnell schreiten – aber es sagte: „Ich bin nicht grazil, ich bin fett“ ..?
Sein Name war langweilig. Die Freunde hörten es Stefa Frühling nennen und nahmen Wilhelms Einfall hin; das hübsche Mädchen wurde gewöhnt, andere Worte zu hören.
Als sie spazieren gingen und Wilhelm sagte: „Ich hab dich gern, aber ich küsse die Mädchen nicht“, lächelte Stefa Frühling mit rot geöffneten Lippen, drohend: „Das sag ich meiner schönen Schwester!“
Sie gingen oft spazieren. Sie drangen unbesorgt in verlassene Gärten ein. Es war noch Winter da draußen vor der Stadt. Stefa Frühling erzählte, wovon sie nachts geträumt hatte, „vom Verreisen ans Meer“, „von einem Himmel ohne Häuser“ – und wurde Schwatzliese gescholten. Alsbald schrie sie mit großer Kunst wie eine Elster, wurde gelobt und echote alle Vogelrufe nach.
Abends fror Stefa Frühling, Wilhelm trug sie in seinem Paletot. Das große Wickelkind krallte die Hände in sein Haar, eine ungesunde Zärtlichkeit.
Er ging nach Hause: Sie ist nicht fett; das ist nicht präzis. Sie ist prick. Wie sie schrie, die pricke Drossel.
Stefa Frühlings Familie lud ihn ein. Während man plauderte, saßen auf dem Sofa blond und schwarzhaarig Mutter und Mädchen. „Dame und Damenjunges“, dachte Wilhelm.
Dann war der Winter zu Ende. Die Tage fielen auseinander, und Wilhelm verließ die Stadt.
Ihr braun gesiegelter Brief lag morgens zwischen dem Teeporzellan. Er gab ihn seinen Fingerspitzen zum Spielen. Das Format der Umschläge differierte, aber das graphische Bild auf den Briefen hatte photographische Ähnlichkeit. In gleichem Tempo schrieb sie ihre groben, flüchtigen Buchstaben über kleine und große Kuverts.
Im April reiste Wilhelm zurück, durch die Wälder. Die Sonne glänzte und schwankte. „Ich werde in der Stadt eine Postkarte schreiben: Ich bin hier, ich freue mich. Wir wollen spazieren gehen.“
In den Straßen fühlte er das Tupfen von Luft und Sonne in seinem Gesicht. Alles erwartete ihn hier. Alle Müdigkeiten und Ansammlungen waren fort.
Das Zimmermädchen brachte die eingegangenen Briefe. Wilhelm sah nach der Handschrift und bog einen zwischen den Fingern: er würde lächeln bei der Lektüre. Da fiel Stefa Frühlings Photographie dunkel über die roten und grünen Tropfen der Briefmarken auf den Schreibtisch.
Am gleichen Nachmittag sagte Stefa Frühling: „Ich werde heiraten.“
„Natürlich“, sprach er, „wirst du das.“
„Aber ich werde mich zunächst verloben und dann diese Spaziergänge aufgeben.“
„Wenn du verlobt bist, gratuliere ich dir. Ich habe auch ein kleines Geschenk. Denke an mich, solange es vorhält.“ Er hatte einen Karton Konfekt in der Tasche.
Sie sah ihn an. Die Größe seines Gefühls während der Reise machte ihn  verlegen. Werde ich mich morgen grämen? dachte er. Ich liebe sie, wenn sie fort ist; wenn ich sie sehe, tue ich sonst nichts mehr.
Er sagte zögernd: „Ich habe dich nicht geküßt. Ich wußte niemals, ob wir uns liebten. Ich weiß es wieder nicht.“
„Hattest du nicht Angst, daß ich dich verlassen könnte?“
„Ja, im Grunde war ich feige.“
„Und jetzt, da ich dich allein lasse, küssest du mich jetzt?“
„Vielleicht.“
Sie redeten; sie gingen achtlos mit den Worten um; sie infizierten sich mit ihnen.
„Wenn wir uns die Hände geben, sehen wir unsere Augen später nicht mehr?“
Stefas Frühlings Stimme veränderte sich: „Ich bin doch so unschlüssig. Ich muß jetzt allein sein. Ich muß mich entschließen. Ich werde alt. Heiraten, das ist wenigstens etwas Neues. Das andere wäre freilich schöner, was ich nicht bekomme. Wir kriegen es ja nicht fertig.“
„Ja“, sagte Wilhelm, „wir würden auch nicht mehr vollbringen als heiraten: Anekdoten zusammentragen, das Zufällige annehmen, weil es neu ist.“
„Wenn ich es nicht brauchte, wenn ich etwas anderes hätte; ich würde mich freuen, wenn ich nicht zu heiraten brauchte. Mein Mutter rät mir dazu. Sie hat Furcht, ich könnte wieder ausbrechen. Sie meint, wir sollen jetzt nicht zusammen sein.“
„Heirate“, sagte Wilhelm mitleidig und sah sie an und sah ihren Mund: Sehr hübsch, sehr hübsch, dachte er – – – aber was für Gefühle sonst!
Unterwegs zu den Häusern der Stadt begann er die Trennung zu erleben. Das Gesicht der Tage alterte.
Er fand in seinem Zimmer die Lampe ohne Öl. Es war niemand mehr in der Küche. Da setzte er sich an den Schreibtisch und roch an Stefa Frühlings Briefen. Die Sekunden stachen ihn. „Heute kann ich sie nicht mehr sehen!“ sagte er. Es wurde Schmerz in ihm.
Er machte Spaziergänge mit seinen Freunden und spielte abends Schach. Er bat sie in halbem Scherz, ihm eines ihrer Mädchen zu überlassen: „Ich altere frauenlos. Ich bin jähzornig geworden. Suizid drängt sich auf. Ich begreife nicht, daß ich keine Frauen habe.“
„Wir haben auch nur unser Auskommen, keine Rede von Ausschweifung. Uns allen fehlt das Tierherz des Zuhälters.“
„Was soll ich tun?“
„Dich um nichts kümmern. Die Frühling heiraten lassen, wen sie will. Wie wolltest du sie lieben, da es Liebe nicht gibt!“
„Ist also mein Gefühl Schwindel? Ich bringe es nie heraus.“
„Pah, möchtest du mit ihr schlafen? Du lügst, wenn du nicht geil bist!“
Das Gespräch ging weiter, doch Wilhelms Gedanken versteckten sich hier. Er verlangte Hilfe von der Skepsis gegen die Leidenschaft.
In der Nacht fand er keinen Schlaf. Sein Körper blieb heiß. Die Vorstellung seines Verlustes wurde maßlos. Trotzdem wußte er: „Ich liebe sie nicht“, und hatte Stöhnen in der Kehle.
„Die schlimmen Tage werden nicht heilen!“ Er versuchte es mit Sexualität, aber die Fleischesjugend einer Kokotte erlag seinen seelischen Strapazen. Er holte sich Ekel und nervöse Tränen und saß den Rest dieser Nacht halluzinierend am Schreibtisch.
Am dritten Abend besuchte er eine Gesellschaft. Das Haus leuchtete wie ein fremder Stern.
Stefa Frühlings Mutter wurde ein wenig verstört, ein wenig böse, als sie ihn sah, sagte:
„Herr Kreißler, wir wollen uns aussprechen wie ein Mensch zum andern“, sagte: „Die Kleine ist zu Hause und weint. – -“ Er sagte: „Ah, das Kind einer Dame!“ Zitternd. Freudeweiß. – –
Er ging in der Straße. Seidener Fluß Erotik! Luft, die Frauen mit den Brüsten gepreßt hatten, fiel auf ihn. Im Café schrieb er ihr.
„Bleibe meine Freundin! Ich habe niemanden. Ich gehe zu Grunde, wenn du mich verlässest. Ich altere frauenlos. Ich kenne die Dirnen aller Stände, aber ich bin kein Tier mehr. Meine Güte wurde jähzornig nach und nach. Du hast mein Herz geboren, nun herze es – du junge Mutter!“
Sie treffen sich. Mondabends. Der Garten ist grün und die Luft hell. Wilhelm redet nicht mehr. Alles ist entstellt. Er sieht ihr Gesicht und empfindet Schweigen und Haß. Er sitzt schmerzmüde bei ihrer Angst. Er beobachtet die Mädchenangst in ihren Augen. Er spricht freundlich mit ihr und küßte sie nicht. Er genießt die Vergeltung für das, was er an drei Tagen gelitten hat. Seine Grausamkeit erfrischt ihn. Er hilft ihr nicht, sieht ohne Mitleid, daß ihre Liebkosungen täppisch und jungfräulich bleiben und bekommt einen Schluck Küsse über die Lippen. Ihr Kuß ist mager und hat den Geruch von Tränen.
Es dauert eine lange halbe Stunde, dann sagt Wilhelm: „Wir wollen gehen.“

Erstveröffentlichung:
Die weißen Blätter Bd. 1, Jg. 1913/14, 2. Semester, Nr. 7 (März 1914)

Auf der Chaiselongue

Wir haben nicht der Sonne Sympathien.
Und man verspricht sich zwecklos in Gebeten.
Die Negerin, das Pferd und den Ästheten
Frißt Erde auf. Sie können nicht entfliehn.

Gott ist der Freund der Bäume und der Sterne.
Im Hochgebirge wilde Tannen schreien.
Orion hängt über dem All im Freien.
Monumental. Maßlos. In tauber Ferne.

Im Hirn Gelächter. Ich sprach: die Freiheit!! –
Das Weib ist populär. Der Koitus.
Das wadenwarme Bett. Man friert und freit. –

Gefüllt mit Zähnen ist zuletzt der Kuß. –
Komm du doch, Freund, verkürze mir die Zeit,
Mein fröhlich lärmender Revolverschuß.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 4, Jg. 1914, Nr. 9 (28. Feb.)

Mann und Menschfrau

Der Park beleckt, ein grüner Katarakt,
Das weiße Haus, in dem wir nach uns greifen.
Du hast Angstaugen. Um die Fenster streifen
Ahorne braun und indianernackt.

Sturm hat die Nacht, die Negerin, gepackt.
– Du wirst doch diese Herzart nicht begreifen.
Laß aus dir trinken, und ich werde reifen.
Verdorrte Augen überschwemmt dein Akt.

Du kriegst ein Kind. Ich werde einsam sterben
In braunen Muskeln und vom Tag gedörrter.
Jetzt könnten deine Arme mich entfärben.

Orient und Eden machst du gegenwärtig.
Wir wandeln nackt durch baumige Hirnörter.
Engel – dein weißer Bauch ist dunkelbärtig.

Erstveröffentlichung:
„Junge Pferde! Junge Pferde!“ (1914)


Homme et humain femme

Le parc lèche, verte frondaison,
La maison blanche où nous nous empoignons.
La peur dans tes yeux. Les érables bruns
Frôlent les carreaux, nus indiens.

La tempête a saisi la nuit, négresse,
Cette forme de câlin, t ne la comprendras.
Laisse-moi boire à toi pourque je mûrisse,
Les yeux calcinés, ta nudité les noie.

Je mourrai seul, tu attends un enfant.
Mes muscles bruns, par les jours desséchés,
Tu pourrais les blanchir maintenant.

Tu rends présent l’Eden et l’Orient,
Dans une forêt cérébrale nous flânons nus.
Ange, ton ventre est sombrement barbu.

© 2005-11 Eberhard Scheiffele (Traductions de 22 poèmes de Paul Boldt)

Die schlafende Erna

Auf einer Ottomane aus Mohär
Liegt sie in Seidenröcken, eine Truhe
Voll Nacktheit, und ich denke voll Unruhe
An dein Geheimstes – schönes Sekretär.

Die Frauen tuen Wundervolles in die Seide.
Am Knie beginnt es. Ich will es auspellen,
Wenn Küsse summen nach hautsüßen Stellen
Im Bett, daß wir nicht schlafen können beide.

Du großes Mädchen, die noch kleinen Brüste
Schmücken dich mir. Auf den geheimen Schmuck
Hast du die linke weiße Hand gelegt;

Ich dachte: Soll die eine, die sie trägt –
Die schwarze Blume welken von den Druck?
Und nahm die Hand weg, die ich leise küßte.

Erstveröffentlichung:
„Junge Pferde! Junge Pferde!“ (1914)

Friedrichstraßenkroki 3 Uhr 20 nachts

Die Friedrichstraße trägt auf Stein
Die blassen Gewässer des Lichtes.
Die Dirnen umstehn mit Hirschgeweihn
Die Circe meines Gesichtes.

Ich schaue: – Der Träume Phosphor rinnt
In zwei, vier Menschenaugen neu.
– Wie eine Katze springt, gefleckt, der Wind
Zwischen des Asphalts Lichterstreu

Und trägt den fetten, weißen Rauch
Im Maul den jungen Winden ins Nest.
Er faßt die Dirnen an den Bauch
Und klemmt die dünnen Röcke fest.

– Da sind Gesichter, lachen nett,
Daß alle Zähne blecken müssen;
Die Louis zeigen ihr Skelett,
Louise läßt mich ihres küssen.

Erstveröffentlichung:
„Junge Pferde! Junge Pferde!“ (1914)

Erläuterungen:
Louis. Slang für Zuhälter

Der Dichter

Die Antlitzlast auf seinen Schädelknochen,
Wie ein Museum, und die Schmerzen hängen,
In großen Augen, blicklos und gebrochen,
Und in dem Mund, verzerrt von den Gesängen.

Es kommt heraus, Dunkles des Blutes, quillt.
Er wird wahnsinnig aus Liebhaberei.
Sein Mund geht lüstern auf. Er lächelt wild.
Hinter die Zähne bergend seinen Schrei.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 4, Jg. 1914, Nr. 5 (31. Jan.)


Le poète

Tout le poids du visage comme un musèe
Sur la boîte crânienne, et la douleur pend
Dans de grands yeux sans regard, brisés,
Et dans la bouche tordue par les chants.

Enfin il sourd du sang, le jet obscur,
De passion il devient dément.
Sa bouche grimace de volupté. Sourire
Sauvage, il cache son cri derrière ses dents.

© 2005-11 Eberhard Scheiffele (Traductions de 22 poèmes de Paul Boldt)

Berlin

Die Stimmen der Autos wie Jägersignale
Die Täler der Straße bewaldend ziehn.
Schüsse von Licht. Mit einem Male
Brennen die Himmel auf Berlin,

Die Spree, ein Antlitz wie der Tag,
Das glänzend meerwärts späht nach Rettern,
Behält der wilden Stadt Geschmack,
Auf der die Züge krächzend klettern.

Die blaue Nacht fließt in den Forst,
Sie fühlt, geblendet, daß du lebst.
Schnellzüge steigen aus dem Horst!
Der weiße Abend, den du webst,

Fühlt, blüht, verblättert in das All.
Ein Menschenhände-Fangen treibst du
Um den verklungnen Erdenball
Wie hartes Licht; und also bleibst du.

Wer weiß, in welche Welten dein
Erstarktes Sternenauge schien,
Stahlmasterblühte Stadt aus Stein,
Der Erde weiße Blume, Berlin.

Erstveröffentlichung:
„Junge Pferde! Junge Pferde!“ (1914)

Nach der Nacht

Laternen, die den Regenabend führen,
Haben die Stadt, die glänzende, verraten.
Eiweißer Eiter tropft im Lichteratem
Der Friedrichstraße, wo sich Dirnen rühren.

Die Augen kriechen aus den Faltenlidern
Und spritzen einen Blick, der dich begießt.
Sie lachen sich das Kleid vom Bauch; du siehst
Die Brüste – Krötenbäuche in den Miedern.

Du flohst, und Vögel sangen für dich junitags.
Der Morgen senkte sich in dein Gesicht.
Es schlugen die Uhren an, weckten das Licht.
Doggengebell des Turmuhrstundenschlags.

Du öffnest deinen Mund, der ist lichtzahnig.
O Wanderungen im Gestein der Stadt!
O Röcheln, Schreie, seelenquälend Rad! –
Es sprudelt aus der Morgenröte sahnig.

Du schweigst. Hinter den dunklen Augen ruht
Das Hirn vom Krampf der tötenden Arsene.
Du lächelst, blickst – und da betritt die Szene
Die Sonne, jugendlich, im Wolkenhut.

Erstveröffentlichung:
„Junge Pferde! Junge Pferde!“ (1914)

Laut DSGVO müssen wir Sie über die Verwendung von Cookies informieren. Durch Ihren Besuch unserer Website stimmen Sie dem zu.