Biographie

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Paul Boldt – eine Spurensuche.
von
Marc Pendzich

1) Quellenlage

Paul Boldt -Junge Pferde Junge Pferde – Schmutztitel der ersten Auflage 1914

Der expressionistische Dichter Paul Boldt (1885-1921) hat 85 Gedichte und zwei Kurzgeschichten veröffentlicht. Die Erstveröffentlichung erfolgte in der Regel in der Zeitschrift „Die Aktion“ bzw. in seinem einzigen, in zweifacher Auflage (1914 u. 1918) erschienen Gedichtband „Junge Pferde! Junge Pferde!“. 1979 erschien die ebenfalls mit „Junge Pferde! Junge Pferde!“ getitelte Gesamtausgabe seiner Werke im Walter-Verlag. Auch die zweite und letzte Auflage von 1982 ist längst vergriffen. In einigen Sammelbänden zum Thema „Lyrik des Expressionismus“ sind einzelne Gedichte von Paul Boldt zu finden.

2008 erschien in der Edition Razamba eine Wiederveröffentlichung des Gedichtbandes “Junge Pferde! Junge Pferde!” Damit ist rund die Hälfte des Oeuvres von Paul Boldt wieder gedruckt erhältlich.

    • Über Paul Boldts Lebensweg ist wenig bekannt. Die Angaben sind zudem teilweise widersprüchlich (vgl. Rühmkorf 153). Anhand der Aktenvermerke in den Immatrikulationsbüchern der Universitäten, der Notizen zu einigen Lazarett- und Krankenhausaufenthalten lassen sich die wesentlichen Lebensstationen von Paul Boldt nachvollziehen und dürfen als gesichert gelten (siehe tabellarischer Lebenslauf). Paul Boldts Sterbeurkunde ist erhalten. Drei Briefe von Herbert Nickel, dem damals noch lebenden Neffen und letzten Verwandten von Paul Boldt, an Wolfgang Minaty aus den 1970er Jahren geben über einige persönliche Details zu Paul Boldt Auskunft.
    • Mit einer systematischen Boldt-Forschung wurde erst Mitte der 1970er Jahre begonnen, sodass auch deshalb die Quellenlage desolat ist.
      Der Herausgeber der Gesamtausgabe, Wolfgang Minaty, merkt dazu an:
Paul Boldt Rohrpostkarte an Egmont Seyelen – Postkarten-Abschriften 3 17.5.1913 10.11.1913

„Außer seinen Gedichten blieb nicht viel: ein paar Postkarten, sonst nichts handschriftliches mehr, kein Nachlass, kein Photo, auch nicht das ominöse Köfferchen, mit dem Boldts Halbschwester, Jenny Horst, 1945 von Westpreußen nach Thüringen geflohen war. Darin mochten sich wohl die letzten und wichtigsten Habseligkeiten des Bruders befunden haben. Das Altersheim in Gehren, in dem Jenny Horst 1948 verstorben ist, hüllt sich in Schweigen. Paul Raabe, Sachverwalter der expressionistischen Grundlagenforschung, notierte 1961, dass Paul Boldt ‘eine der rätselhaften Figuren des deutschen Expressionismus‘ sei. Ich meine, er wird weiterhin ein Rätsel bleiben“ (1979, 228).

[Anmerkung: Der Germanist Paul Raabe hat eine Art Köchelverzeichnis des deutschsprachigen literarischen Expressionismus erstellt.]

  • Wissenschaftliche Arbeiten, die sich mit dem Werk Paul Boldts auseinandersetzen, gibt es bislang nur vereinzelt (siehe ”Quellen”). In der Regel wird Paul Boldt bis heute in wissenschaftlichen Studien lediglich mit zwei, drei Sätzen bedacht. Ausnahme bildet der in Tokio ansässige Germanist Eberhard Scheiffele, der seit vielen Jahren eine intensive Boldt-Forschung betreibt und regelmäßig Aufsätze über Boldts Werk veröffentlicht.
    Im Jahre 2008 begab sich Scheiffele auf eine nochmalige mehrmonatige und deutschlandweite Recherche in diversen Archiven sowie in Nachlässen von Wegbegleitern Boldts. So fand er neu heraus, dass Boldt auch mit Else Laske-Schüler bekannt war. Insgesamt jedoch lautet das Fazit, dass heute, rund 90 Jahre nach Paul Boldts Tod, kaum mehr neue Fakten in Erfahrung zu bringen sind (vgl. Scheiffele 2009).

Angesichts dieser Quellenlage reduziert sich die Schilderung des Lebensweges von Paul Boldt auf eine Spurensuche.

(2) Eine biographische Spurensuche

Paul Boldt, geboren am 31. Dezember 1885 als Sohn eines Gutsbesitzers in Christfelde bei Kulen an der Weichsel, Kreis Schwetz, Westpreußen, wuchs in Peterswalde auf und machte 1906 in Schwetz sein Abitur (Angaben nach Nickel). Danach „reiste Boldt nach München ab, um dort sein Philologie-Studium aufzunehmen. Nach zwei Semestern ging er für einen Sommer nach Marburg a. d. Lahn, um dann in Berlin sein Studium fortzusetzen, aber nicht abzuschließen“ (Minaty 1979, 216 – 217). Sein Studium, dessen offizielles Berufsziel Gymnasiallehrer war (nach Nickel, zit. in Minaty 1976, 6), war breit gefächert. Neben Philologie-Vorlesungen hat er im Verlauf seines Studiums z.B. Veranstaltungen in Psychologie, Kunstgeschichte, Ethnologie, Astronomie und Parapsychologie besucht. Die Anzahl der Semesterstunden nahm im Verlauf seines Studiums allgemein und besonders bzgl. Philologie immer weiter ab.
Offensichtlich fand er statt dessen Anschluss an die Berliner Literaturszene oder hatte dort zumindest einen „Fuß in der Tür“. Der Abbruch des Studiums erfolgte im Sommer 1912 zeitgleich ersten Veröffentlichungen von Gedichten in der Zeitschrift „Die Aktion“. Diese von Fritz Pfemfert (1879 – 1954) herausgegebene Zeitschrift, die Paul Boldt bis 1918 ein kontinuierliches Forum bieten sollte, formulierte in der ersten Ausgabe von 1911 folgendes Selbstverständnis: „Die Aktion tritt, ohne sich auf den Boden einer bestimmten politischen Partei zu stellen, für die Idee der Grossen Deutschen Linken ein“ (1911, zit. in Minaty 226).
Umgehend erschrieb sich Boldt einen festen Platz bei der „Aktion“. Insbesondere mit dem Gedicht „Junge Pferde“, das im Oktober 1912 erschien, stieß auf einige Resonanz. Minaty schrieb dazu (vielleicht etwas optimistisch): „Boldt war in. Innerhalb kürzester Zeit war er ins Gespräch geraten. Man ging nicht mehr an ihm vorbei.”

“So gab ihm das 1911 gegründete literarische Cabaret ‘Gnu‘ unter Leitung von Kurt Hiller und Ernst Blaß am 28. Januar 1913 die Gelegenheit, seine Verse vorzutragen, wie dies daraufhin öfters geschah“ (Minaty 1976, 9). Boldt nahm zu dieser Zeit an mehreren Autorenabenden der „Aktion“ teil, auf welchen jeweils auch bekannte Lyriker wie Gottfried Benn und Alfred Wolfenstein auftraten.

Der heutigen Unbekanntheit zum Trotz hat Boldt als einer der de facto stetigsten Mitarbeiter der „Aktion“ in diesen Jahren zu gelten. In Berlin, der Hauptstadt des deutschen Expressionismus, war er mit seinen Auftritten auf Autorenabenden der „Aktion“, beim „Gnu“ sowie einem weiteren Cabaret namens „Die feindlichen Brüder“ kein unbeschriebenes Blatt mehr.

Wirklich dazugehört hatte er dennoch nie: „In den für die Entwicklung des Expressionismus so bedeutsamen Gruppen und Zirkeln, Freund- und Feindschaften war für Boldt kein Platz – oder er suchte dort keinen. Innerhalb der expressionistischen Bewegung hatte er keine Freunde, höchstens Bekannte. Und für die war Boldt vor allem der Schöpfer eines Gedichts, das die Aktion Ende 1912 veröffentlicht hatte, der Verfasser der Jungen Pferde“ (Faul 26, Hervorhebung Faul).

Paul Boldt Junge Pferde Junge Pferde Cover Zweite Auflage 1918

Auf jeden Fall gelang Paul Boldt das Kunststück, bereits 18 Monate nach erstmaliger Veröffentlichung eines Gedichtes seine erste eigenständige Publikation in Form des 44 Gedichte umfassenden Gedichtbandes „Junge Pferde! Junge Pferde!“ vorzulegen. Sie enthielt neben einem Teil der in „Die Aktion“ gedruckten Gedichte auch 17 Erstveröffentlichungen. Das Buch erschien Anfang 1914 im Kurt Wolff Verlag in Leipzig mit einer Auflage von ca. 2000 Exemplaren als 11. Band der insgesamt 86 Bände umfassenden Reihe Der Jüngste Tag, in der auch Kafka, Werfel, Benn und Trakl veröffentlicht haben.

Die Reaktionen auf „Junge Pferde! Junge Pferde!“ waren viel versprechend und doch markiert diese erste eigenständige Veröffentlichung bereits eine Wende im Schaffen Boldts. Ab diesem Zeitpunkt ließ die Frequenz der Veröffentlichungen merklich nach, um dann 1918 schließlich ganz aufzuhören: Während in der zweiten Jahreshälfte von 1912 einundzwanzig Gedichte, 1913 ganze 25 Gedichte (+ 17 Erstveröffentlichungen in „Junge Pferde! Junge Pferde!“ im Januar 1914) erschienen, waren 1914 und 1915 nur noch jeweils neun Veröffentlichungen, 1916 zwei und 1917 und 1918 jeweils ein Gedicht in „Die Aktion“ zu verzeichnen.

Das Café Josty am Potsdamer Platz wie der Maler Paul Hoeniger es 1890 sah – vgl. Paul Boldt „Auf der Terrasse des Café Josty“

Was er nach Abbruch seines Studiums konkret machte, ob er (feste) Beziehungen, Freunde oder einen Nebenverdienst hatte – all dies ist nicht bekannt. Gesichert ist, dass er, nachdem die Eltern ihm bereits während des Studiums die finanzielle Unterstützung entzogen hatten, von seiner Halbschwester Jenny Geld erhielt, die von dem Erbe ihres leiblichen Vaters gut leben konnte.

 

Anzahl und Inhalte der Gedichte deuten darauf hin, dass es Paul Boldt ab 1914/15 nicht besonders gut ging. Marcel Reich-Ranicki dazu:

„Was immer er schrieb, er war zum Bersten voll mit Empfindungen und Ängsten, mit Bildern und Gesichten. Dieser Überschwang der Gefühle war es wohl, an dem er schließlich zerbrach. Davon ist die Rede in Boldts Gedicht „In der Welt“ aus dem Jahre 1913. Welt? Gerade dieses Wort wird in dem Gedicht ausgespart. Das hat schon seinen guten, traurigen Grund: Hier spricht einer, dem die Welt abhanden gekommen ist und der an seiner Ohnmacht und Ratlosigkeit leidet. … Aber so schlecht ist es um diesen verlorenen Menschen noch nicht bestellt. Denn es gelingt ihm die denkbar knappste Formulierung zu finden: ‘Mein Ich ist fort‘“ (139-140).

In jedem Fall spitzte sich die persönliche Lage für Paul Boldt zu, als er in die Armee eingezogen wurde: Im November 1915 trat er als Kanonier in die preußische Armee ein. Bereits Anfang 1916 wurde er ins Lazarett eingewiesen, obwohl er „nicht im Felde gewesen“ (1976, 80) sei. Er sei „dauernd garnison- und arbeitsverwendungsunfähig“ gewesen. „Verwirrungszustand“, „Nervenleiden“ und „Akute Verstörtheit auf Grund neurasthenischer Psychopathie“ wurden ihm attestiert. Es gibt keine weiteren Eintragungen bzgl. Versetzungen, Frontverlegungen etc. über Paul Boldt, sodass anzunehmen ist, das die preußische Armee ihn bald darauf aus ihren Diensten entlassen hat.
Die versiegende Kreativität und die Art der späteren Gedichte deuten allerdings ebenfalls auf erhebliche Probleme hin. Zeilen wie „hirnher nach hirndort“ und „Ichbild, der Muskel, knittert als Zwangsjacke“ (beide Zitate: „Die Sprecher„, 1917) haben mit der der positiven Lebens- und Liebesbesessenheit der produktiven Zeit vor 1915 nichts mehr zu tun.

Auch ohne posthume medizinische Diagnosen erscheint nachvollziehbar, weshalb Boldt bald nach Eintritt in die Armee im Lazarett landete:

Paul Boldt, der nicht ergebnisorientiert studieren wollte oder konnte, der den Studienort häufig wechselte – dieser unruhige überschwänglich labile Geist, der

  • sich in seinen Gedichten von Anfang an auf emotionaler Achterbahnfahrt befand,
  • der anscheinend erhebliche Bindungsangst hatte (vgl. Gedichte),
  • auf jeden Fall wenige Freundschaften und Bindungen einging,
  • sich durch das öffentliche Bekenntnis des Umgangs mit Prostituierten bewusst gegen die wilhelminische Gesellschaft stellte,
  • grundsätzlich aber sehr sensibel gewesen sein muss,
  • seit 1912 als freier Schriftsteller bzw. Dichter arbeitete (und, da andere Tätigkeiten nicht bekannt sind, wahrscheinlich ansonsten in den Tag hineinlebte),

sollte Ende 1915 als gedrillter Soldat und Befehlsempfänger in einen Weltkrieg ziehen, dessen Anfangs-Euphorie zu dieser Zeit längst verpufft und der Ernst der persönlichen Lage den zukünftigen Soldaten schon deutlich bewusst war.

1918 wagte Paul Boldt einen Neuanfang, wandte sich von seiner Dichtertätigkeit ab und nahm mit erneuter finanzieller Unterstützung seiner Eltern ein Medizinstudium auf. 1920 verließ er Berlin, um in der badischen Provinz, im konservativen Freiburg im Breisgau, sein Studium fortzusetzen. Von dort schickte er nach Angaben Nickels bei mehreren Gelegenheiten eine Schwarzwaldtanne an seine Eltern in Westpreußen. In Freiburg bestand er „nach einer erforderlichen Wiederholung die ärztliche Vorprüfung“ (1976, 82). Zu einem weiteren beabsichtigten Studienortwechsel nach Königsberg in Ostpreußen kam es nicht mehr. Paul Boldt wurde am 7. März 1921 in die chirurgische Klinik in Freiburg im Breisgau eingeliefert, wo er am 16. März 1921 starb: „Er [ließ] sich nur mit örtlicher Betäubung an einem Leistenbruch operieren. Er selbst soll dabei interessiert zugesehen haben. Die Operation verlief komplikationslos. An dem Tage jedoch, an welchem er wieder aufstehen durfte, soll er an einem Blutgerinsel im Herz gestorben sein“ (Nickel in Minaty 1976, 82). „Die Klinik vermerkte dazu: ‘Schlaganfall‘, d. h. Embolie“ (1976, 82).

Sein Nachlass gilt seit 60 Jahren als verschollen. Geblieben sind lediglich sechs oder sieben handschriftlich verfasste Postkarten (abweichende Angaben) und das bereits gedruckte Werk. Sein Grab auf einem Freiburger Friedhof wurde 1974 eingeebnet (Minaty 1976, 83). Photos oder Portraitzeichnungen gibt es nicht. Äußerungen über Paul Boldt von Bekannten oder Freunden sind, da er keinen intensiven Zugang zur expressionistischen Szene fand und als Lyriker wahrscheinlich bereits 1915 in radikale Anonymität zurücksank, nur spärlich bekannt:

 

(3) Aussagen von Wegbegleitern und Literaten

Kurt Hiller meint über Paul Boldt:
„Er war lang und etwas plump, sah wie ein Pferd aus, stammte aus einem Nest in Westpreußen, war scheu und liebenswürdig, schuf nur Formvollendetes, übrigens rein sensuale Sachen, hatte kaum enge Freunde, aber bestimmt keinen Feind, eines Tages (wohl noch im Ersten Weltkrieg) verschwand er, man hörte nie von seinem Tode etwas, theoretisch möglich wäre, daß er noch lebt. Es ist nicht wahrscheinlich“ (Hiller in Minaty 1976, 3).

Herbert Nickel schreibt über Paul Boldt:
„Er war über 190 cm gross, blond, Brillenträger und von wuchtiger Gestalt mit grossflächigem Gesicht. Er legte Wert auf ein gepflegtes Äußeres“ (Nickel in Minaty 1976, 5).

Rudolf Leinert bemerkt über Boldts Gemütszustand, daß „Paul Boldt, der körperwuchtige Riese, bald unheilbarem Wahnsinn verfallen“ sei (Leinert in Minaty 1976, 80)

Bei Peter Härtling ist zu erfahren:
„Wahrscheinlich kam der junge Mann von einem westpreußischen Bauernhof in die Städte. … danach studierte er [Philologie] in München, Marburg, Berlin. Das geschah wohl nur nebenher.“ Und weiter, in einem eher poetischen Ton ist dort zu lesen: „Er mischte sich, unerkannt, ein; ein unbekümmerter Fremder, der Leben an sich riss und zum glühen brachte, der auf die Zeitmusik lauschte, dann aber seine eigene Melodie ausspielte.“ Härtling porträtiert Boldt als einen streunenden freien Vagabunden, der überall und nirgends zu finden ist, und projiziert Boldts frühes Gedicht „Junge Pferde“ (1912) auf Boldts Charakter. „Nur wenige Male läßt Boldt sich zähmen, so am 24. März 1914, als er gemeinsam mit Benn, Wolfenstein, Leo Matthias in Cassirers Salon auftritt und vorliest – wie er gewirkt hat, ob er verstörte oder entzückte, hat niemand weitergesagt“ (9).

Peter Härtling schreibt weiter über Boldts Werk:
„Natürlich schleppen seine Gedichte ihre Zeit mit, kommen sie nicht aus ohne schreiende Übertreibung, heftige Farben, kühn zugespitzte Metaphern.“ „Kein deutscher Poet dieses Jahrhunderts war Eros so verbunden. Rühmte er Landschaften, meinte er Frauen, besang er Frauen, beschrieb er Landschaften“ (9).

Wolfgang Minaty notiert im gleichen Zusammenhang:
„Boldt war kein genuin politischer Dichter. Er wirkte eher indirekt. Er brandmarkte die Tabuisierung der Sexualität und diskreditierte die Doppelmoral des wilhelminischen Bürgers, indem er offen den Gang zur Dirne bekannte und seine erotischen Empfindungen [per Gedicht] öffentlich nacherlebte. Dies war der Kampf gegen die verlogenen Moralanschauungen der Vätergeneration und insofern ein wichtiges Glied von Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft überhaupt.“

4) Boldts Werke als biographische Quelle

Boldts Werk als biographische Informationsquelle zu verwenden liegt nahe, weil auf anderem Wege nur wenig über ihn zu erfahren ist. Der Vergleich der Lebensdaten mit dem Werk gestaltet sich im Falle Paul Boldt allerdings insofern besonders schwierig, als dass der Zeitraum, in dem die meisten Gedichte erschienen sind, sehr begrenzt ist – die meisten Gedichte wurden zwischen 1912 und 1914 veröffentlicht. Innerhalb dieser Hauptperiode Entwicklungen im Schaffen Paul Boldts oder seines psychischen Zustandes wahrnehmen zu wollen, ist wissenschaftlich nicht fundiert zu gestalten, weil Paul Boldts Werk grundsätzlich nur über den Erstdruck dokumentiert ist, die Entstehungsdaten der Gedichte also nicht bekannt sind. Viele Gedichte wurden zudem Anfang 1914 im Gedichtband „Junge Pferde! Junge Pferde!“ veröffentlicht.
Einen psychischen Absturz Boldts durch die Reihenfolge der Gedichte ablesen zu wollen, den Minaty prozesshaft auch innerhalb der frühen Gedichten bis Anfang 1914 zu erkennen vermeint, ist aus meiner Sicht daher nicht zu bestätigen.

Der Vergleich der frühen und späten, nach 1915 erschienenen Gedichte verdeutlicht die offensichtlich bestehenden psychischen Probleme Boldts. Abgesehen vom offenbar versiegenden kreativen Fluss erscheinen diese Gedichte in zunehmenden Maße unverständlich, in ihrer Wortwahl und Stil vollkommen anders gestaltet als die frühen Werke, hart und die Welt unangenehm ver-rückend („hirnher nach hirndort“, aus: „Die Sprecher“).

Auffällig viele Gedichte von Boldt sind im Rotlichtmilieu angesiedelt. Sie sind es, die ihm den Ruf als den erotischen Dichter des 20. Jahrhunderts eingebracht haben. Minaty bezeichnet Boldt als Besessenen, dem wahllos die vulgären Ausdrücke über die Lippen kommen. Tatsächlich hat Boldt nie ein Feigenblatt vor den Mund genommen. Der Gang zur Prostituierten scheint für ihn normal gewesen zu sein. Eine Entwicklung vom distanzierten Beobachter „zum rasendsten Liebhaber und Bordellbesucher, den das kaiserliche Berlin gekannt hatte“ (1979, 225), ist allerdings nicht zu belegen. (Nebenbei: Womit hätte er einen solchen Lebenswandel finanzieren sollen?)

In diesem Zusammenhang fallen die mehrfachen Äußerungen und Detailkenntnisse über die Syphilis auf. Diese Thematik wird tatsächlich erst in späteren Gedichten aufgegriffen und deuten an, dass jemand in seiner Umgebung oder Paul Boldt selbst infiziert gewesen sein könnte.

Das Material der „biographischen Spurensuche“ stützt sich vorwiegend auf Untersuchungen Wolfgang Minatys (1976, 1979).

Neubearbeitung der Daten durch Marc Pendzich (1999, Revision 2009).

 

5) Nachspiel. Zur Rezeption des Werkes von Paul Boldt und das IN DER WELT-Projekt

Die Expressionisten sind längst als Klassiker verbucht. Hoch thronen sie, die Olympier: Benn, Heym, Trakl, Werfel. Auch die Becher, Goll und Hasenclever sind schon zu Halbgöttern aufgerückt. Doch es drängelt sich immer noch eine erkleckliche Schar in den himmlischen Wartezimmern. Einer der Antichambristen heißt Paul Boldt. In den Literaturgeschichten ist er zur Fußnote geschrumpft“ (Minaty 1979, 215).

Warum ist Paul Boldt fast vergessen? Warum wurde er „nicht zu einer mythischen Figur …, … warum träumen bei uns nicht die jungen Dichter von ihm als einem vogelfreien Bruder ,… der sich in die Stadt verirrte und in sie vernarrte, einem, der selig lärmend kam und – Schätze und Scherben hinterlassend – spurlos verschwand“? (Härtling 5).

Schätze und Scherben? „[E]in Gutteil [ist] von minderer Qualität, wie für den Tag geschrieben…“ (215) urteilt nicht nur Minaty. Andererseits bestätigen beispielsweise Peter Rühmkorf, Wolfgang Minaty und vor allem Peter Härtling, dass es „Gründe genug [gibt], ihn zu den ,entscheidenden Prägefiguren‘ (Rühmkorf 1976) des deutschen Expressionismus zu zählen“ (ebd., vgl. Rühmkorf 16, Faul 34).

Und in der Tat, viele Menschen, die ich in den letzten Jahren z.B. mit den Gedichten aus „In der Welt” bekannt gemacht habe, sind äußerst angetan von der Energie und Schönheit der dort aufklingenden Bilder. Sie empfinden damit ebenso wie ich – die Kraft und Intensität von Paul Boldts Gedichten hat mich seinerzeit geradezu ans Klavier getrieben.

Allerdings versteht sich meine Auswahl der Boldt-Gedichte nicht als repräsentativer Auszug aus dem Gesamtwerk Paul Boldts. Verwendet habe ich – auch aus musikalischen Gründen – durchweg die verständlicheren, kürzeren, klar strukturierten Gedichte.
Ein Teil der Gedichte, speziell die der Kriegsjahre, ist auch für den mit expressionistischen Texten vertrauten Leser nur noch teilweise zu erfassen.

Wahrscheinlich kommt man hier den Ursachen einer fehlenden Boldt-Leserschaft näher. Betrachtet man die Auswahl Boldt‘scher Gedichte in Sammelwerken, so fällt auf, dass es meist seine Naturlyrik und die zwei, drei immer gleichen Ich-Dissoziationsgedichte sind, die abgedruckt werden. Viele der übrigen weiteren Gedichte sind extrem, entziehen sich dem Horizont der eigenen Erfahrung, sind Tagebuch eines Absturzes und der Bericht eines Menschen, dem wir nur teilweise folgen können.
Vielleicht würde die Lektüre dem Leser leichter fallen, wenn er sich ergänzend biographische Hintergründe erschließen könnte. Wolfgang Borchert etwa wird sicherlich auch aufgrund und auf der Folie seiner Biographie gelesen. Auch Boldts Lebensgeschichte, gerade auch sein früher Tod, der einem spurlosen Verschwinden gleichkommt, könnte zur Mythenbildung reizen.

Dem ist nicht so gewesen, und so neige ich dazu, die Gründe dafür im Werk selbst zu sehen: Es handelt sich um zum Teil recht extreme, nicht zur Identifikation geeignete Gedichte. Novellen, Erzählungen u.ä. sind quasi nicht vorhanden. Boldt bietet uns ein schmales reines Gedicht-Werk ohne erhellende biographische Hintergründe. Er war Teil des deutschen Expressionismus, der vom Zeitgeist des wilhelminischen Kaiserreichs getragen wurde und nach einem kurzfristigen Revival nach dem zweiten Weltkrieg endgültig zu Geschichte geworden ist.

Paul Boldt war und bleibt eine „Fußnote“ (Minaty 215) der Literaturgeschichte.

Und doch, es bleibt etwas. Ein Lebenswerk ist nur bedingt anhand der Zahl der (zugänglichen) Werke zu messen. Eine Reihe von Werken Paul Boldts, darunter die sechs „In der Welt“-Gedichte, sind von einer bizarren Schönheit und Anmut, voll tief empfundener Energie, die den Leser um einen Augenblick bereichert. Und das ist verwirklichte Idee, das ist Kunst. Möge „In der Welt“ dazu beitragen, dass die Kunst des Paul Boldt uns vermehrt gegenwärtig sein wird.

Literaturnachweis:

Faul, Eckhard (1993):  „Diese Leichtigkeit. Paul Boldts ‘Junge Pferde‘“.  ‘Wir wissen ja nicht was gilt‘: Interpretationen zur deutschsprachigen Lyrik des 20. Jahrhunderts.  Hg. Reiner Marx u. Christoph Weiss.  St. Ingbert: Röhrig, S. 26-36.  [Interpretation des Gedichts „Junge Pferde“ und Einbeziehung biographischer Hintergründe]

Härtling, Peter (1979):  „Paul Boldt“.  in:  Junge Pferde, Junge Pferde.  Gesamtausgabe der Gedichte Paul Boldts.  Walter: Olten, 1979.  [Emphatische Einschätzung und poetische Betrachtung des Kentaurs Paul Boldt]

Minaty, Wolfgang (1976):  Paul Boldt und die ‘Jungen Pferde‘ des Expressionismus. Erotik, Gesellschaftskritik und Offenbarungseid.  Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik.  Bd. 23.  Stuttgart: Heinz.  [Grundlagenforschung, welche die meisten gesicherten Daten zu Paul Boldt vorlegt]

Minaty, Wolfgang (1979):  „Ein preußischer Proteus“.  [Essay]  in:  Junge Pferde, Junge Pferde.  Gesamtausgabe der Gedichte Paul Boldts.  Walter: Olten.

Reich-Ranicki, Marcel (1994):  „Ein Gesicht ist auf die Sterne gefallen“.  in:  Frankfurter Anthologie. Gedichte und Interpretation.  Bd. 17.  Hg. Reich-Ranicki.  S. 137-140.  [Pointiertes Essay über Paul Boldt anhand der Interpretation des Gedichts „In der Welt“]

Rühmkorf, Peter (Hg.) (1990):  131 expressionistische Gedichte.  Neuausgabe.  Wagenbach: Berlin.  [Einführung in den literarischen Expressionismus mit zwei kurzen Absätzen zu Paul Boldt]

Scheiffele, Eberhard (2009).  „3fach gesucht: ein Lyriker namens Paul Boldt”.  Waseda Blätter. Band 16. Tokyo.

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