Amor und Mors

Die Liebenden am Abend in Berlin!
Wir liebten junge Mädchen nach Gewicht!‘
Elf Dutzend Pfund! Sie radebrechten: „Nicht“,
Umarmten uns und stießen mit den Knien!

Unser Geschlecht berauscht die Jungfraun! Schrien
Nicht alle gleich? – Ach, dieser Lärmkehricht‘
Deflorationen ist erinnerungschlicht
Verschollen wie Quartaneronanien. –

Wir mästen unser Lachen. In den Städten,
Des Todes sehr rentablen Fleischerein,
Arbeiten Dirnen, Ärzte; sie entgräten

Die Luesleichen für den Schlund des Grabes,
Tod, stellst du keinen Liebesdichter ein?
Wir machen Propaganda für die Tabes.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 18 (30. April)

Erläuterungen:
Lues. lat. „Seuche“, hier:  Syphilis.
Tabes. Auch tabes dorsalis, aus lat. „Rückenmarkschwindsucht“, ein etwa  9 Jahre nach Ansteckung auftretendes Krankheitsbild der Syphilis.

Abendavenue

Die Straße ist von Klängen überstrahlt,
Bewachsen von Phantasmen des Geruches,
Und Hüften in den Hülsen blauen Tuches,
Das aller Schritt zu Reiz zermalmt und mahlt.

Die Dirnen kommen, knarrend, Wollustfuder,
Und Bürgermädchen, die mit Reizen knausern;
Jungfräulein die, und andern, die schon mausern,
Gleitet ein Scharlachlächeln in den Puder.

Teufel! Wir werden wie die Pelikane
– Wenn diese Mädchen uns mit Blicken füttern,
Gierig nach den Konturen und Profilen,

Die alle kommen, einzeln, momentane,
Und aus den fetten Rücken, aus den Müttern,
Bisweilen leise nach uns Jungen schielen.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 17 (23. April)


Avenue du soir

La rue de sons irradiée,
Couverte d’odeurs phantasmées,
Et de hanches dans des étuis bleus roi
Que pour séduire, chaque pas moud et broie.

Les filles de joie arrivent, grinçantes, foudres
De volupté, et de jeunes bourgeoises décentes,
Elles et d’autres qui muent déjà, adolescentes.
D’écarlates sourires glissent dans la poudre.

Diable ! Comme les pélicans nous deviendrons,
Gavés des regards de ces fillettes,
Avides de contours et de silhouettes.

Elles passent toutes, seules, un instant
Et, d’entre les dos gras de leurs mamans,
Parfois, silencieuses, jettent un oeil vers nous, les garçons.

© 2005-11 Eberhard Scheiffele (Traductions de 22 poèmes de Paul Boldt)

Lektüre

Schwer wird‘s zu lachen und nicht auszuspein,
Weil alle Herzen pökeln in den Brüsten.
Ach, ich will Galle haben! Ich will mich entrüsten!
Schmeißt doch die Dichterschädel ein!

Zech, Bab, Lissauer – macht doch ein Pogrom!
Schleift doch ein Messer für die fetten Gurgeln!
Gott schenke sie doch den Chirurgeln
Mit einem Kehlkopfkarzinom.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 16 (16. April)

Erläuterungen:
Zech, Bab, Lissauer.  Paul Zech (1881 – 1946),
Julius Bab (1880 – 1955) und Ernst Lissauer (1882 – 1937), Schriftsteller mit ausgeprägten Hang zum Patriotismus.

Mondschein [Prosa]

Abends; – abends lachten die Wälder. Rotes Lachen. Die jungen Bäume liebten sich. Der Osten glänzte schwarz. Der Mond schritt durch des Ostens Dunkelheit. Weit umher verlor er Licht. Die Nebel leuchteten hinter ihm.
Alle Ställe schwammen auf und das Gutshaus und der Park. Die Blumen beunruhigten sich. Des Frühlings jüngstes Gericht war da.
Die Tür des Parkes stand auf. – Wie viele es waren! Junge Stuten schritten hinein. Eine Hellbraune, zweijährig und schon erwachsen, als letzte. Die Pforte lief hinterher in das Schloß.
Die jungen Pferde waren erregt. Sie besprangen einander, sehnsüchtig, begattet zu sein. Ihre Nüstern waren Blüten, die atmeten. Aber ihre schönen Köpfe waren entstellt. Die Krankheit der Wollust, die den Schädel aufbläht und fleischig macht.
Die hellbraune Stute aus dem Tragheimer Gestüt, mit kleinen Ohren und schwarzem, geflochtenem Schweif, lag in einem Beet. Ihre Hufe waren verborgen von den Narzissen. Sie wuchs auf ihren Hüften gleich einer sitzenden Frau. Ihr brauner Hals floß in die Blumen. Ihr Gesicht war unwillig, als litte es Schmerz. Sie fühlte ihren Leib nackt. Und sie wartete. Schreilos. Wie der Wald den Sturm erwartet.

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 15 (9. April)

Mein Februarherz

Als trügen Frauen in den Straußenfedern‘
Das junge Licht wie eine weiße Fahne,
Gehörten alle Häuser reichen Reedern
Und wären Schiffe, schwimmt um die Altane

Die blaue Luft! Oh, jetzt in einem Kahne
Auf Wassern fahren, süßen Morgennebeln
Entgegensteuern, gleich dem leisen Schwane
Die Wellen teilend mit den schwarzen Hebeln!

Geh in die Leipzigerstraße! Geh ins Freie!
Schön ist die Wollust! Gott ein guter Junge.
Die Dirnen sommern brünstiger als Haie!

Ich habe Geld! Ich bin so schön im Schwunge.
Sonette aus Sonne kitzeln mir die Zunge!
In meiner Kehle sammeln sich die Schreie!

Erstveröffentlichung:
Die Aktion Bd. 3, Jg. 1913, Nr. 14 (2. April)

Leipzigerstraße. Querstraße zur Berliner Amüsiermeile Friedrichstraße.

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